Ein Wochenende in einer anderen Welt
Bericht zur Trauerfreizeit für Kinder und Jugendliche 2012
“Hey Anne, halt' mal kurz!“ - Eine lustige, aber auch passende Begrüßung. Ich bekomme gleich einen Strick in die Hand gedrückt. Als ich hinüber schaue, finde ich am anderen Ende Stjarna, eine Islandpferdestute, die dieses Wochenende auch eine wichtige Aufgabe übernehmen wird – sozusagen – meine Kollegin. Gleich neben dem großen Indianerzelt, einem Tipi, meinem neuen „Zuhause“ für die nächsten vier Tage und meiner neuen haarigen „Kollegin“, kann ich erst einmal die wunderschöne Umgebung auf mich wirken lassen. Irgendwie fühle ich von Beginn an eine besondere Atmosphäre! Dieses wunderschöne Anwesen mit einem großen orange farbigen Forsthaus, umgeben von grünen Wiesen und einer Stille – magisch.
Diese Ruhe ist aber schlagartig vorbei, als die ersten Autos auf den Hof fahren. Ich bin so gespannt. Heraus kommen aufgeweckte Jugendliche, von denen sich schon die meisten kennen. Sie fallen sich gleich alle in die Arme. Eine ansteckende freundliche Stimmung. Wie in einer großen Familie, von allem etwas dabei: groß, klein, aufgeweckt oder ein bisschen schüchtern. Aber mir ist sofort klar, dass etwas zwischen den Kindern besteht – nämlich eine tiefere Verbindung. Sie wissen wohl alle, dass sie aufeinander zählen können, egal, was an diesem Wochenende passiert.
Das kleinere von den beiden Tipis ist das „Gruppen-Tipi“. Dorthin werden wir uns zurückziehen, um beispielsweise über Trauer zu sprechen. Wir treffen uns dort auch zum Gesprächsritual jeden Morgen nach dem Frühstück und am Abend nach dem Abendessen.
Als wir zum ersten Mal, kurz nach dem Ankommen, im Tipi zusammen sind, ist mir noch nicht klar, was auf mich zukommt. Alle sitzen im Kreis und sind zur Ruhe gekommen. Nun erzählen die Kinder und Jugendlichen reihum. Sie berichten davon wie sie sich gerade fühlen, was sie in ihrem Alltag bewegt und wer bei ihnen im Leben nun besonders fehlt. In diesem Moment war es, als ob die Welt um uns herum einfach stillstand! Es breitete sich eine warme, sehr emotionale Stimmung im Tipi aus. Anteil nehmen zu dürfen, an den bewegenden Biographien der Kinder, hat mich tief berührt. Diese für mich vorher so unbefangenen, fröhlich-wirkenden Kinder wurden nun ernst, was ich noch nie zuvor bei so jungen Menschen gesehen hatte. Sie wirkten plötzlich so erwachsen. Es war eine Sekunde, eine Situation, ein Schicksal, das sie zu den Persönlichkeiten gemacht hat, die sie heute sind.
Ab diesem Moment wusste ich, dass dieses Wochenende auch mich berühren und verändern wird.
Am Anfang stellte ich bereits eine meiner „Kolleginnen“ Stjarna vor. Dazu kommen noch so viele helfende Hände, Hufe und Pfoten. Wenn wir uns im Tipi treffen, sind die Hunde Ronja und Loona immer mit dabei. Tagsüber sind die Kinder dann mit den Pferden unterwegs. Egal, ob Pferd oder Hund, diese Tiere bewegen etwas in uns. Ein besonderes Erlebnis gab es in der ersten Gesprächsrunde mit Hündin Ronja. Ein Kind erzählte von seinem Schicksal, dabei begann es zu weinen. Ronja stand sofort auf und legte sich direkt neben das traurige Kind, so nah, dass es sie streicheln konnte. Das war so überraschend, dass sogar das weinende Mädchen zu lächeln begann. Aber nicht nur die Tiere, sondern auch die anderen Kinder und Betreuer bewegten etwas. Ihre Fragen zu Ängsten, Unsicherheiten oder zum Umgang mit dem Verlust halfen allen, gegenseitig mit Ihren Sorgen umzugehen.
Mit der „Trauer“ stoßen die jungen Menschen im Alltag nicht selten an Grenzen. An diesem Wochenende erfahren sie sich mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen und Belastungen im Mittelpunkt, sie fühlen sich ernst genommen. Durch zahlreiche Angebote wird ihnen der Raum gegeben, den es eben gerade braucht. Durch Improvisationstheater, Gespräche, Gedichte oder andere kreative Aktionen, wird es den Kindern erleichtert zuzulassen, was sie bewegt.
Sie fanden hier immer Ansprechpartner oder eine Schulter zum Anlehnen.
Ein Wochenende in einer anderen Welt – zwischen einer Vielzahl von Gefühlen. Wut, Trauer, Verzweiflung, Angst, Freude, Hoffnung und Glücksmomente liegen nie näher zusammen, als nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Der Grat dazwischen ist sehr schmal. Das Alltagsleben ist dann sehr fragil. Es wird wichtig Quellen für neue Energie zu finden, um mit der Lücke, die der Verlust eines geliebten Menschen in das Herz reißt, zurechtzukommen. Zu zeigen, dass mit entgegengebrachtem Verständnis und Vertrauen ein freudiges Leben mit allem nötigen Schmerz und den Erinnerungen möglich sein kann, das ist uns, denke ich, an diesem Wochenende gelungen. Wenn die Kinder diese Erfahrungen, mitnehmen, dann werden Sie nach und nach die Kraft finden, ihre eigene Lebenswelt zu gestalten. Sie werden die Kraft finden, ihre eigene Lebenswelt zu gestalten und stabile und glückliche Persönlichkeiten sein. Davon bin ich überzeugt.